Die Corona-Einschränkungen der letzten drei Semester haben uns allen deutlich gemacht, was wir an der Präsenz vermissen, was uns schmerzlich fehlt und wo sich die zwangsdigitalisierte Universität nicht wie eine richtige Universität anfühlt – egal, wie gut die Technik funktioniert. Gleichzeitig – nicht ganz so deutlich vielleicht – wird uns aber auch bewusst, welche Gewohnheiten und bisherigen Selbstverständlichkeiten der alten Universität wir nicht vermissen und welche neuen Möglichkeiten sich bieten.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Universität kein Ort der Massenabfertigung sein darf; zum einen aus Respekt den hier studierenden und arbeitenden Menschen gegenüber, zum anderen und vor allem aber, weil wir uns eine solche Universität als Gesellschaft gar nicht leisten können. Unsere Welt von heute – und stärker noch: von morgen – ist von Digitalisierung, globaler Vernetzung und globalem Wettbewerb, von Beschleunigung und allgegenwärtiger Optimierung geprägt. Unseren Wohlstand, letzendlich aber auch unsere Freiheit können wir nur erhalten, wenn wir auch in Zukunft die Entwicklung mitgestalten und nicht hinterherlaufen. Dazu müssen wir, müssen unsere Kinder, Auszubildenden und Studierenden die Welt verstehen können, sie als gestaltbar kennenlernen und in der Lage sein, eigene, ehrgeizige aber realistische Ziele zu entwickeln und sie in einer sich schnell wandelnden Umgebung zu verfolgen. Nein, das sind keine neuen Anforderungen, aber sie werden zunehmend wichtiger, bin ich überzeugt – auch weil die Konsequenzen erahnbar werden, die drohen, wenn wir zum Beispiel den Anspruch aufgeben, die digitale Welt mitgestalten zu können: Dann lassen wir uns auf hervorragend optimierten Customer Journeys durch das Leben schieben und sind gute End User, aber keine Erfinder*innen, Visionär*innen und unsere Gesellschaft selbst gestaltende Menschen. Zu große Worte, zu dystopisch? Ich glaube nicht, schaut Euch nur an, was allzu häufig auf den Smartphones passiert, die wir unseren Kindern geben.
Dennoch zurück zu der Frage: Was für ein Ort soll die Universität sein? Im Frühjahr hatte ich das Glück, für den Projektantrag zur Ausschreibung “Hochschullehre durch Digitalisierung stärken” meine ganz konkrete Vision eines idealisierten Tages an der Universität der Zukunft aufschreiben zu dürfen. Solche Anträge sind in der Länge streng begrenzt und lassen kaum Platz für Beispiele und Anschauliches. Trotzdem hat es eine komprimierte Fassung der Vision in unseren Antrag “UOS.DLL – Digitales Lernen Leben” geschafft, das Projekt wurde erfreulicherweise zur Förderung ausgewählt und nun darf ich mit ganz vielen sehr unterschiedlichen, sehr enthusiastischen und sehr kritisch mitdenkenden Menschen auch über meine (hier sehr verdichtete) Idee eines guten zukünftigen Hochschulalltags diskutieren:
Kim und Leo studieren an der Universität Osnabrück. Sie treffen sich jeden Montag bei der Kurzvorlesung „Algorithmen“, die sie trotz unterschiedlicher Studiengänge als Grundlagenvorlesung belegen. Der nur 45-minütige Vortrag ersetzt zwei 90-Minuten-Vorlesungen, ist pointiert und motiviert sie meistens sehr gut, sich anschließend selbstständig mit den Themen der Woche weiter zu befassen.
Kim bringt schon einiges Vorwissen mit und nutzt die bereitgestellten digitalen Materialien und persönlichen Tutorien gezielt, um Lücken aufzufüllen. Leo tut sich sehr viel schwerer mit der ungewohnten Materie und freut sich über die Möglichkeit, in Walk-in-Sessions intensiv nachzufragen und die eigenen Schwierigkeiten mit Tutor*innen und dem Professor direkt zu besprechen. Kim und Leo würden sich beide nicht als klassische Vollzeitstudierende bezeichnen: Kim belegt zur Spezialisierung einige Kurse an anderen Hochschulen, Leo versucht, das notwendige Jobben neben dem Studium mit studienrelevanten Praxiserfahrungen zu verbinden. Dennoch ist ihre Kurswahl kaum eingeschränkt, denn sehr viele ihrer Lehrveranstaltungen tragen das „.DLL“-Label und ermöglichen zeitliche Flexibilität. Die nutzen beide nach dem Vortrag für projektbezogenes Arbeiten und Lernen im Digitallabor, wo sie für ein interdisziplinäres Seminar mit 3D-Drucker, Minicomputer, Stiften und Pappe an ihrer ganz eigenen Idee einer interaktiven Europakarte für den Geographieunterricht tüfteln.
Kim und Leo schätzen es, dass ihnen zugetraut wird, eigene Ziele, Interessen und Herangehensweisen zu haben, aber dieses flexible Arbeiten fällt ihnen manchmal auch schwer und war für sie nicht von Anfang an selbstverständlich. Kim profitiert dabei vor allem vom persönlichen Austausch mit Lehrenden, der zur Vergewisserung und Absicherung dient. Die Seminarleiterin beaufsichtigt die Projektarbeiten nicht vor Ort, ist aber über den Messengerkanal erreichbar. Und falls sie nicht helfen kann, gibt es noch die Kanäle für 3D-Druck und Geographieprojekte. Leo nutzt außerdem gerne digitale Angebote, die Arbeitstechniken wie „Getting things done“ praxisorientiert erläutern, und probiert sie direkt aus.
Die gefürchteten Klausuren, in denen Auswendiggelerntes abgefragt wird, kennen Kim und Leo kaum. In den meisten Prüfungen haben sie das Gefühl, echte Lösungen für relevante Fragestellungen zu erarbeiten und ganz unterschiedliche Kompetenzen und Erfahrungen einbringen zu müssen. Heute beenden sie ihre Arbeit im Digitallabor schneller sonst, weil ein Gastvortrag zu Europabildung ansteht – sie haben nämlich schnell gelernt, dass es an einer Universität viel mehr interessante Veranstaltungen und Orte des Austauschs gibt als nur die offiziellen Lehrveranstaltungen.
“Ein typischer Studientag im Jahre 2025 könnte dann zum Beispiel so aussehen” aus dem Antrag zum Projekt UOS.DLL – Digitales Lernen Leben
Dies ist der erste Beitrag in unserer Kategorie “Meinungen und Haltungen”, in der wir auch persönliche Ansichten und Überlegungen zu Wort kommen und zur Diskussion stellen wollen. Konkrete Fragen und lose Gedanken, Weiterdenken, Widerspruch und Gegenreden: All das ist in den Kommentaren hier erwünscht, vor allem aber auch bei den hoffentlich zahlreichen persönlichen Begegnungen zu der Frage “Was für ein Ort soll die Universität – unsere Universität – sein?”