Über den Einsatz freier und offener Software an der Universität (Teil 2)

Der folgende Beitrag wurde von Benjamin Angerer, Mitarbeiter im Projekt UOS.DLL, für die Blog-Kategorie „Meinungen und Haltungen“ verfasst.

„Aber in unserem Feld ist X der absolute Standard“, „Wenn unsere Absolvent*innen mit Y nicht umgehen können, brauchen sie sich in der freien Wirtschaft gar nicht erst zu bewerben“, „Z benutzt doch sonst nirgendwo jemand, das zu lernen, wäre reine Zeitverschwendung“. Ob es um Photoshop, AutoCAD, ArcGIS, MatLab, SPSS, MAXQDA oder anderes geht – wer die Verwendung alternativer Softwarepakete in der universitären Lehre vorschlägt, wird häufig mit derlei Argumenten konfrontiert.

In einem vorigen Beitrag hatte ich bereits über ökonomische und partizipatorische Gründe dafür gesprochen, der Verwendung von freier und offener Software (im Weiteren FOSS) an Universitäten besondere Beachtung zu schenken. In diesem zweiten Teil will ich nun auf FOSS speziell aus Sicht der Lehre eingehen, im Besonderen auf die obigen Argumente. Denn oftmals stellt genau das den fundamentalen Grund für die Ablehnung von FOSS-Alternativen dar.

Um gleich zum Punkt zu kommen: Es ist richtig, dass es in bestimmten Feldern Tools gibt, die „de facto-Standard“ sind und deren Beherrschung auch von vielen Arbeitgeber*innen erwartet wird. Was hingegen nicht richtig ist, wäre, daraus abzuleiten, dass diese Tools daher auch zwangsläufig beim Erlernen grundlegender Begriffe und Fertigkeiten eines Feldes eingesetzt werden müssten.

Denn obwohl das Erlernen des Umgangs mit Softwarepaket X möglicherweise eines der Lernziele einer Veranstaltung ist, haben die meisten derartigen Veranstaltungen doch vorrangig das Ziel, allgemein den Umgang mit Software, die denselben Einsatzzweck wie X hat, zu vermitteln sowie die dahinterstehenden Konzepte zu erläutern.

Abbildung 1: Adobe Illustrator – eines der am weitesten verbreiteten kommerziellen Vektorgrafikprogramme
Abbildung 2: Inkscape – ein freies und offenes Vektorgrafikprogramm

Wieviel Abstraktion hätten’s denn gern?

Man kennt es womöglich von sich selbst: Ist man für bestimmte Zwecke ein bestimmtes Tool gewohnt und kennt auch sonst keines, fühlt man sich anderswo schnell verloren – selbst wenn man „vom Fach“ ist. Das liegt daran, dass es beim Umgang mit einzelnen Tools nicht nötig ist, zu verstehen, warum eine Funktion an einem bestimmten Ort oder unter einem bestimmten Namen zu finden ist – man hat sich deren konkreten Ort, Namen usw. schlicht gemerkt. Das gilt umso mehr für komplexe, wissenschaftliche Software, die in einer Lehrveranstaltung nach kurzer Einführung direkt zur Erledigung vorgegebener Übungsaufgaben benutzt werden soll.

Grundsätzlich ausgedrückt: So haben Anfänger*innen im Umgang mit einer Wissensdomäne die grundsätzliche Tendenz, Kategorien auf Basis oberflächlicher Eigenschaften zu bilden, und nicht auf Basis unterliegender Funktionsprinzipien (Chi, Feltovich, & Glaser, 1981). Erst durch die sukzessive Auseinandersetzung mit mehreren, im Detail verschiedenen Exemplaren derselben Kategorie werden abstraktere Eigenschaften gelernt (Kuehne, Forbus, Gentner, & Quinn, 2000). Diese helfen dann, zuvor Gelerntes auch in neuen Kontexten anwenden zu können (Gentner, Loewenstein, Thompson, & Forbus, 2009). Im Bezug auf Softwarebedienung hieße das also, dass man idealerweise mehr als einem Tool für denselben Zweck begegnen sollte, um wirklich etwas über die Anwendungs-Domäne zu lernen – statt nur über die Anwendung selbst.

FOSS-Alternativen als Lerngelegenheiten

Nun wäre es sowohl für Lehrende als auch für Studierende zu komplex, verwirrend – und nicht zuletzt schlicht unrealistisch – ständig zwischen verschiedenen Tools zu wechseln. Doch gibt es durchaus andere, realistische Strategien, lehrreiche Vergleiche zwischen mehreren Tools zu ermöglichen. Dabei ist der Einsatz des etablierten „Standard“-Tools zwar nützlich, aber nicht zwingend erforderlich. Auch ein – Abstraktion gestattender – Vergleich zwischen zwei FOSS-Tools hilft, über die Anwendungs-Domäne und somit mittelbar über den Umgang mit dem „Standard“-Tool zu lernen.

In Veranstaltungen mit Übungsaufgaben/Tutorien etc. ließe sich das Ganze insbesondere zu Beginn gut in Übungskontexte integrieren. Mögliche Aufgaben könnten z. B. sein:

  • Verwenden Sie wenigstens 2 Tools“: Eine Auswahl angemessener Tools anbieten; keine Benutzung bestimmter Tools, wohl aber einen Toolwechsel vorschreiben. Idealerweise ist dabei eine Reflexionsaufgabe über die Vor- und Nachteile des jeweiligen Tools vorgesehen.
  • Explorationsaufgaben: In der Lehrveranstaltung wird ein bestimmtes (freies) Tool verwendet. Im Kontext einer Übung sollen die Studierenden allerdings eigenständig Alternativen recherchieren und ihre Eignung einschätzen. Unter Umständen ist eine solche Einschätzung erst später im Verlauf der Lehrveranstaltung leistbar, dann könnte sie z. B. zum Ende einer intensiveren Phase zur Auflockerung genutzt werden.
  • Vergleichende Annotation: Im Kurs wird ein bestimmtes (freies) Tool verwendet. Als Übungsaufgabe wird jedoch mitunter gefordert z. B. Schritt-für-Schritt-Anleitungen, Screenshots des verwendeten und eines alternativen Tools vergleichend zu annotieren. Bestenfalls sollten die zu annotierenden Materialien beider Tools so dargestellt sein, dass sich eine vergleichende Sichtweise nahelegt (Jamrozik & Gentner, 2020).

Im Idealfall ist es also möglich, Studierende sowohl darauf vorzubereiten, erfolgreich mit Industriestandard-Software umzugehen, als auch durch den expliziten Einsatz anderer Tools in der Lehre den Studierenden zu helfen, die abstrakte Funktionsweise von Software zu verstehen.

Zeitgleich gewährt der Einsatz von FOSS-Tools zu diesem Zweck sämtliche Vorteile von FOSS, die an anderer Stelle bereits diskutiert wurden.

Referenzen

Chi, M. T. H., Feltovich, P. J., & Glaser, R. (1981). Categorization and representation of physics problems by experts and novices. Cognitive Science, 5(2), 121–152.

Chi, M. T. H., & VanLehn, K. A. (2012). Seeing deep structure from the interactions of surface features. Educational Psychologist, 47(3), 177–188.

Gentner, D., Loewenstein, J., Thompson, L., & Forbus, K. D. (2009). Reviving inert knowledge: Analogical abstraction supports relational retrieval of past events. Cognitive Science, 33, 1343–1382.

Jamrozik, A., & Gentner, D. (2020). Relational labeling unlocks inert knowledge. Cognition, 196, 104146.

Kuehne, S. E., Forbus, K. D., Gentner, D., & Quinn, B. (2000). SEQL: Category learning as progressive abstraction using structure mapping. In L. R. Gleitman & A. K. Joshi (Eds.), Proceedings of the 22nd Annual Conference of the Cognitive Science Society. Philadelphia, PA: University of Pennsylvania.