Projekt InClassPraxis – Inverted Classroom in der Praxis des Fachbereichs Mathematik/Informatik

Wo liegen die technischen, prozessorientierten und didaktischen Herausforderungen von Lehrangeboten, die individuell auf Studierendengruppen zugeschnitten sind? Im Projekt InClassPraxis (Qualität Plus) des Fachbereichs Mathematik/Informatik wirkten mehrere Arbeitsgruppen daran mit, Lehrveranstaltungen digitaler zu gestalten und zu verbessern, indem unter anderem verstärkt modulare Konzepte und Flipped-Classroom-Konzepte erprobt wurden. Aufgrund des besonderen Bedarfs durch die Coronapandemie wurde zudem ein Klausurengenerator entwickelt, um Online-Prüfungen in Vorlesungen mit einer größeren Anzahl an Teilnehmenden (50 oder mehr) zu verbessern.

Projekttitel: Inverted Classroom in der Hochschulpraxis – technische, prozessorientierte und didaktische Herausforderungen
Leitung: Prof. Dr.-Ing. Elke Pulvermüller, Prof. Dr. Michael Brinkmeier und Dr. phil. Tobias Thelen
Abteilung: Institut für Mathematik/Informatik
Verortung: Didaktik der Informatik
Mitarbeitende: Elisaweta Ossovski, Sven Klecker, Nils Baumgartner, Dennis Ziegenhagen
Laufzeit: 01/2019 – 09/2022
Finanzierungsquelle: Land Niedersachsen, Programm Qualität Plus
Kontakt: Prof. Dr.-Ing. Elke Pulvermüller, Prof. Dr. Michael Brinkmeier und Dr. phil. Tobias Thelen

1. Ausgangslage

An dem Projekt „InClassPraxis“ beteiligten sich drei Arbeitsgruppen des Instituts für Informatik: Medieninformatik/E-Learning, Didaktik der Informatik und Software Engineering. Dabei entstanden Mittel und Prozesse, die eine nachhaltige Verbesserung der Lehre ermöglichen sollen. Ein übergreifendes Merkmale der InClassPraxis-Teilprojekte ist die Einbeziehung von Lehrveranstaltungen. So wurde von der AG Didaktik der Informatik ein neues Modulkonzept für „Einführung in Algorithmen und Datenstrukturen“ entwickelt. An der AG Software Engineering wurden Lehrinhalte und Prüfungen aus der Veranstaltung „Einführung in die Software-Entwicklung“ genutzt, um die Entwicklung digitaler Werkzeuge praxisnah durchzuführen. Als weiteres übergreifendes Merkmal der Teilprojekte ist die Beeinflussung durch die COVID-19-Pandemie zu benennen: Die Herausforderungen der erforderlichen Digitalisierung der Universitätslehre [1] boten gleichzeitig Chance, um Prozesse und Werkzeuge gezielt für eine digitale Nutzung anzupassen.

Im Folgenden werden die Ergebnisse der InClassPraxis-Teilprojekte anhand der Arbeitsgruppen vorgestellt.

2. AG Didaktik der Informatik

In der AG Didaktik der Informatik wurde ein neues Modulkonzept für „Einführung in Algorithmen und Datenstrukturen“ entwickelt und erprobt. Dabei lag der Schwerpunkt auf dem Inverted-Classroom-Konzept [2], bei dem die Vermittlung theoretischer Inhalte in individueller Arbeit stattfindet, während die Gruppenarbeitszeiten für Übungen und Vertiefungen genutzt werden.

Im Modul bestehen dabei mehrere Herausforderungen: zum einen werden mit Algorithmen und Datenstrukturen sowie der Programmierung zwei Themenfelder abgedeckt, die häufig stärker voneinander getrennt gelehrt werden, sodass mehr Zeit für eine gute Vertiefung bleibt. Zum anderen führt eine hohe Heterogenität in Vorwissen und Studienzielen, die sich auch auf die Motivation der Studierenden auswirkt, zur Schwierigkeit ein geeignetes Niveau zu finden, um nicht zu viele Studierende zu über- oder unterfordern. Aus diesem Grund wurden auch interaktives Material zum Selbstlernen und ergänzende Übungs- und Hilfsangebote entwickelt. Insgesamt teilt sich das Modul auf die drei Komponenten Lessons als Vorlesungsersatz, Coding Class als Übung sowie Abgabeaufgaben auf. Ein Gamificationkonzept ergänzt die inhaltlichen Aspekte.

2.1 Lessons

Aufgrund der Corona-Pandemie musste im Wintersemester 2020/21 der Wechsel zu digitaler Lehre erfolgen. Im Rahmen des Projekts konnte dabei ein weiterer Teil des Moduls in das Inverted-Classroom-Konzept überführt werden. So wurde die Vorlesung und deren Aufzeichnung durch interaktive Lessons zum Selbstlernen ersetzt.

2.1.1 Konzept

Bei den Lessons handelt es sich um interaktive Materialien zum Selbstlernen, die jeweils ein Thema behandeln und in Wochenplänen organisiert sind. Den Themen liegt dabei ein Graph zugrunde, nach dem auch in den Lessons weitere Themen verlinkt werden, die für eine Lesson vorausgesetzt werden und als Ausblick folgen können. Dadurch ist eine bessere Individualisierung möglich. Studierende mit wenig Vorwissen können bei den Grundlagen beginnen und diese besser vertiefen, während Studierende, die bereits über viel Vorwissen verfügen, weitere Lessons zur Erweiterung durcharbeiten können.

2.1.2 Umsetzung

Für die Lessons werden JupyterNotebooks verwendet, die durch Markdown- und Code-Zellen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Nach der erwähnten Verlinkung auf die Voraussetzungen einer Lesson werden die theoretischen Inhalte in einer Slideshow erklärt. Dabei handelt es sich um einen Foliensatz mit Audio, der im Gegensatz zu einem echten Video einen flexibleren Umgang und einfachere Editiermöglichkeiten bietet. Danach folgen mit weiteren Erklärungen in Markdown-Zellen konkrete Beispiele in Code-Zellen, die zum Ausprobieren und Verändern einladen. Dadurch werden die Inhalte nicht mehr nur passiv vermittelt, sondern die Interaktivität erlaubt auch eine angemessene Vor- und Nachbereitung und erste praktische Anwendung.

2.2 Coding Classes

Aufgrund der Zunahme praktischer Beispiele in den Vorlesungsinhalten sanken die tatsächlichen Inhalte der Übungen kurz vor Projektbeginn zunehmend.  Die grundsätzlich passive Art der Übung und der fehlende Nutzen, fertige Lösungen zu besprechen, ohne den Lösungsweg nachzuvollziehen, erforderten eine grundsätzliche Umstrukturierung der Übung hin zu einem aktiven Konzept. Um den aktiven Charakter und den Programmierbezug zu unterstreichen, wurde der Name „Coding Classes“ gewählt.

2.2.1 Konzept

Die Coding Classes fördern durch zusätzliche Aufgaben, die auf die Abgabeaufgaben (siehe unten) vorbereiten, das aktive Programmierenlernen. Neben der Möglichkeit, direkt beim Üben und Anwenden Hilfe durch Tutor/innen und Übungsleitende zu bekommen, bietet die angestrebte Arbeit in Kleingruppen die Gelegenheit, realitätsnahe Arbeitsweisen wie Pair Programming kennenzulernen. Durch die zusätzlichen Aufgaben werden außerdem bessere  Möglichkeiten geschaffen, um die Vor- und Nachbereitung der Vorlesungsinhalte zu unterstützen.

2.2.2 Umsetzung

Statt bisher vier wöchentlichen Übungsterminen mit bis zu 100 Teilnehmenden wurden durch den Einsatz von Studierenden als Tutor/innen in den Projektjahren zehn bis zwölf Coding-Class-Termine für bis zu 20-40 Studierende angeboten, die jeweils von zwei Personen begleitet wurden. Zu Beginn erfolgt dabei eine gemeinsame Erarbeitung einer einführenden Aufgabe. Den Hauptteil bildet die begleitete Arbeit an den Coding-Class-Aufgaben in Kleingruppen, deren erarbeitete Lösungen am Ende von den Studierenden vorgestellt werden.

2.3 Abgabeaufgaben

Um die für das Programmierenlernen notwendige kontinuierliche Mitarbeit zu gewährleisten, wird bereits seit vielen Jahren die regelmäßige Bearbeitung von Abgabeaufgaben vorausgesetzt. Vor Projektbeginn erlangten Studierende die Klausurzulassung, wenn sie maximal eines der wöchentlichen Aufgabenblätter nicht zufriedenstellend bearbeitet hatten.

2.3.1 Konzept

Um den Stress durch den wöchentliche Bearbeitungsrhythmus zu reduzieren und mehr Kreativität zu ermöglichen, wurden im Projektzeitraum verschiedene Varianten längerer sowie flexibler Abgabezeiträume und offener Aufgaben untersucht.

2.3.2 Umsetzung

Im ersten Projektjahr wurden dreiwöchentliche Bearbeitungszeiträume mit offenen Aufgaben erprobt, die es ermöglichten bei besonders kreativer und anspruchsvoller Lösung Bonuspunkte für die Endnote zu erwerben. Da sich jedoch das Monitoring zum Semesterbeginn als nicht engmaschig genug erwies,  wurden im zweiten Projektjahr mit besserem Ergebnis wachsende Bearbeitungszeiträume festgelegt. Dabei erfolgt zu Semesterbeginn eine engmaschigere Kontrolle mit wöchentlichen und zweiwöchentlichen Abgaben und eher geschlossenen Aufgaben, die mit einem dreiwöchentlichen offen gestalteten Projekt abgeschlossen werden. Grafikelemente und thematische Bezüge zur Popkultur runden die Motivation ab.

2.4 Ausblick

Im Rahmen des Projekts ist ein Modulkonzept entstanden, das maßgeblich zur Verbesserung der Lehre beigetragen hat und zu einer hohen Zufriedenheit bei den Studierenden sorgt. Dieses soll auch nach dem Ende des Projekts weitergeführt werden.

3. AG Medieninformatik / E-Learning

In der AG Medieninformatik/E-Learning wurden in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Digitale Lehre, Campus-Management und Hochschuldidaktik – insbesondere durch die Doppelrolle des Dozenten als Mitarbeiter der Arbeitsgruppe und Leitung der Abteilung “Digitale Lehre” – schon seit 2010 verschiedene digitale Lehr-/Lernformate erprobt und im Rahmen des Projektes InClassPraxis weiterentwickelt. Diese Entwicklungen beziehen sich sowohl auf technische Aspekte, als auch auf neuartige Veranstaltungsformen und -elemente.

3.1 Weiterentwicklung Courseware

Mit dem Courseware-Modul steht in der Open-Source-Lernplattform Stud.IP eine leistungsstarke Komponente für die Erstellung multimedialer und interaktiver Lernmodule zur Verfügung. Courseware ist eine Entwicklung der Universität Osnabrück, die 2015 im Rahmen der Initiative “Offene Hochschule Niedersachsen” angestoßen wurde und seitdem mit unterschiedlicher Förderung aber aufeinander aufbauend weiterentwickelt wurde.

3.1.1 Konzept

Die Grundidee der „Courseware“-Umgebung ist es, attraktive Selbstlernmaterialien unter Nutzung vieler in der Lernplattform bereits vorhandener Werkzeuge einfach zusammenstellen zu können. Für die seit 2003 an der Universität Osnabrück im Einsatz befindliche Plattform Stud.IP bedeutet das einen Paradigmenwechsel: Bislang bot das System eine für jede Veranstaltung grundsätzlich gleiche Umgebung, in der die verfügbaren Werkzeuge als Ordnungskriterium dienten. Das heißt: Für jede Veranstaltung gab es (ein- und ausschaltbar) einen Dateibereich, ein Forum, einen Zeitplan, ein Wiki etc. Mit Courseware bietet sich eine inhaltsorientierte Sicht, die verschiedene Werkzeuge zur Information, Kommunikation, zum Üben und zur Wissensüberprüfung unter einer inhaltlichen Kapitelstrukturierung anbietet.

3.1.2 Umsetzung

Im Rahmen des Projektes InClassPraxis wurden zunächst für die Kurse „Web-Technologien“, „Datenbanksysteme“ und „Introduction Artificial Intelligence“ (Cognitive Science) große Courseware-Praxisbeispiele entwickelt, die nicht nur in den Veranstaltungen selbst für eine erfolgreiche Durchführung von Flipped-Classroom-Szenarien sorgten, sondern in der Informatik und angrenzenden Fächerns als Anschauungmaterial genutzt wurden. Ein besonderes Augenmerk fiel dabei auf die Einbettung externer Tools als Teil des Lernmaterials, die in informatischen Veranstaltungen besonders naheliegend ist, da so Algorithmen direkt und interaktiv eingebunden werden können. Beispiele sind Tools zum Analysieren von Web-Adressen, Beispielabfragen für Datenbanken und interaktiv maschinelle Lernverfahren. Für diese Tools wurden die Einbettungsmöglichkeiten in Courseware deutlich ausgeweitet und mit sicheren Authentifizierungsmöglichenkeiten verbunden.

Darüber hinaus wurde im Rahmen des Projekte die Integration von Courseware in den Stud.IP-Kern mit vorbereitet. Bislang stand Courseware als separates, an der Universität Osnabrück entwickeltes und gepflegtes Stud.IP-Plugin zur Verfügung, das sich in einigen wesentlichen Punkten von den Stud.IP-eigenen Bedienkonzepten unterschied. Mit der Integration in den Kern wird sowohl die langfriste Pflege und Sicherstellung der Nutzbarkeit mit neuen Releases sichergestellt und in die Hände der Stud.IP-Community gelegt, als auch die Verbreitung von Courseware an deutlich mehr Hochschulen als bislang ermöglicht. Mit Release der Version 5.0 im Herbst 2021 ist die Integration von Courseware in den Stud.IP-Kern erfolgreich vorgenommen worden. Sie ist damit allerdings noch nicht abgeschlossen gewesen, da einige Nacharbeiten zur besseren Passung von Courseware-Konzepten und Stud.IP-Bedienung notwendig wurden, bei denen das Projekt wichtige Unterstützung leisten konnte.

3.1.3 Ausblick

Mit der Kern-Integration ist ein wesentlicher Meilenstein für die Courseware-Entwicklung erreicht. Damit können alle Hochschulen, die Stud.IP betreiben, ein modernes und sehr gut akzeptiertes Werkzeug für die Erstellung von Flipped-Classroom- und anderen Selbstlernmaterialien anbieten. Da die mit Courseware erstellten Inhalte austauschbar sind, können nun hochschulintern und hochschulübergreifend – z.B. über die OER-Plattform Twillo – gut integrierte Lernmodule ausgetauscht werden.

3.2 Online-Walk-In-Sessions

Bei der Umsetzung von Flipped-Classroom-Konzepten wird häufig intensiv über die mediale Umsetzung der zu erstellenden Selbstlerneinheiten nachgedacht und viel Aufwand in deren Umsetzung gesteckt. Konzeptuell mindestens ebenso interessant ist allerdings die Frage nach einer sinnvollen Nutzung der „gewonnenen“ Kontaktzeit, die dann nicht mehr mit der Präsentation von Vortragsinhalten belegt ist.

3.2.1 Konzept

Walk-In-Sessions sind ein flexibles Veranstaltungsformat, bei dem Studierenden ein Zeitfenster angeboten wird, innerhalb dessen sie Fragen stellen, an Aufgaben arbeiten, untereinander kommunizieren oder mit den Lehrenden über die Veranstaltungsinhalte hinausgehend diskutieren können. Dabei steht es ihnen frei, ob sie die gesamte Zeit anwesend sind oder nur für einen (gff. sehr kurzen) Zeitraum teilnehmen.

3.2.2 Umsetzung

Für Präsenz-Walk-In-Session bietet sich in der Informatik die Nutzung eines Rechner-Raums (CIP-Pool) oder eines Raums mit Gruppenarbeitsmöglichkeiten an, bei dem die Studierenden eigene elektronische Geräte mitbringen. Als besonders effektiv hat sich ein zu den üblichen Veranstaltungszeiten versetzter Termin herausgestellt, z.B. 13-17 Uhr bei sonst üblichen Veranstaltungsslots von 12-14, 14-16 und 16-18 Uhr. So sind weniger Studierende von Überschneidungen betroffen, da sie mit höherer Wahrscheinlichkeit zumindest einen Teil der Walk-In-Zeit wahrnehmen können.

Bei Walk-In-Session in Kursen mit verpflichtenden wöchentlichen Gruppenübungsaufgaben hat sich eine große Bandbreite an Nutzungsmustern gezeigt. Einige Gruppen haben die Sessions zur Gruppenarbeit genutzt und dabei die verfügbare Zeit häufig komplett ausgenutzt und bei Bedarf Fragen gestellt, um Hilfestellung gebeten, oder sich mit anderen Gruppen ausgetauscht. Andere haben die Sessions nur so lang wie nötig genutzt, um ganz konkrete Fragen mit dem Dozenten zu klären. Auffallend häufig wurden die Sessions genutzt, um mit dem Dozenten Fragen außerhalb des Kurs-Stoffes zu besprechen, z.B. zu möglichen Bachelorarbeitsthemen, zu vertiefenden Themen oder allgemeinen Fragen zum Studiengang.

Online-Walk-In-Sesions übertragen das Prinzip in synchrone Online-Kommunikationsszenarien. Als besonders gut geeignet haben sich Videokonferenzwerkzeuge erwiesen, bei denen die Position der Teilnehmenden in einem virtuell abgebildeten Raum eine wichtige Rolle spielt. Experimentell wurde hier der Dienst wonder.me genutzt, bei dem Avatare (mit eigenem Photo) in einem zweidimensionalen Raum (Draufsicht) bewegt werden. Wann immer zwei oder mehr Avatare sich nah zueinander bewegen, wird ein ad-hoc-Kommunikationsraum geöffnet, zu dem weitere Personen hinzustoßen können. Mit einem solchen Werkzeug ließen sich nahezu alle Verhaltensweisen aus den Präsenz-Walk-In-Session in den Online-Raum übertragen. Lediglich über Stunden durchgeführte Gruppenarbeiten waren dort nicht zu beobachten. Da kein eigener, bzw. per Auftragsdatenverarbeitungsvertrag rechtssicher nutzbarer externer Dienst zur Verfügung stand, wurden den Studierenden zwei Varianten angeboten: Die datenschutzfreundliche unversitätseigene Big-Blue-Button-Umgebung oder – als freiwllig wählbare Alternative – ein wonder-me-Raum.

3.2.3 Ausblick

Walk-In-Sessions haben sich als wirksames und wichtiges Instrument zur individuell angepassten Betreuung von Studierenden in der Präsenzphase von Flipped-Classroom-Veranstaltungen erwiesen. Neben der zeitlichen Flexibilität sind gerade die informellen Kommunikationsmöglichkeiten und die Bildung von ad-hoc-Gruppen wesentliche Erfolgsfaktoren. Überr Videokonferenzsystem mit Breakout-Räumen (wie z.B. BigBlueButton) lassen sich diese Komponenten nur schwer abbilden, so dass es wünschenswert ist, die dynamischen Kommunikationskontexte aus Tools wie wonder.me oder gather.town auch in die an der Universität Osnabrück betriebenen Open-Source-Systeme zu intgrieren.

3.3 Open-Book-Klausuren

Ziel der durch das Projekt begleiteten Lehrveranstaltungen war es, wissenschaftlich fundierte Kenntnisse und Kompetenzen im Umgang mit digitalen Technologien zu vermitteln, die sich längerfristig und einfach auf praktische Anwendungen übertragen lassen. Ziel der eingesetzten Prüfungsformate sollte es daher auch sein, genau diese Übertragungsfähigkeit
unter Beweis zu stellen bzw. zu dokumentieren. Dabei spielten drei Dimensionen in Abgrenzung zu etablierten Prüfungsformen (insbesondere in Individualprüfungen wie Klausuren) eine besondere Rolle:

  1. Fachliche Kompetenzen statt Fachwissen
  2. Informationskompetenz statt „Bulimie-Lernen“
  3. Bedeutsame Problemstellungen statt artifizieller Prüfungsaufgaben

3.3.1 Konzept

Digitale Technologien sind interaktiv, d.h. ihre Anwendung vollzieht sich in einem Wechselspiel von Aktionen und Reaktionen. In der Softwareentwicklung ist es z.B. unrealistisch zu erwarten, dass (selbst kürzere) Programme einfach vollständig und fehlerfrei niedergeschrieben werden können, sondern auch für erfahrene Entwickler sind kleine, iterierende Schritte von Formulieren von Code, Durchführen von Tests und Auffinden und Korrigieren von Fehlern selbstverständlich. Eine Klausuraufgabe, die das Niederschreiben von Programmcode auf Papier erfordert, ist immer hochartifiziell und kann nicht die tatsächliche Korrektheit des Programms zum Bewertungsmaßstabs machen, sondern nur eine schwierig zu definierende „prinzipielle Korrektheit“.

In den „Online Open-Books-Klausuren“ ist die Nutzung beliebiger Informations-Ressourcen gestattet. Ausgeschlossen ist lediglich die Kommunikation mit Dritten. Diese Einschränkung ist in der Praxis schwer zu kontrollieren und daher traten bei anderen Lehrenden sehr schnell skeptische Fragen auf, wie Betrugsversuche unterbunden werden können. Gute Erfahrungen haben wir mit vier Maßnahmen gemacht: 1. Es sind keine eigenen elektronischen Geräte erlaubt, die ggf. stark präpariert sind, sondern nur die bereitgestellten Rechner im Prüfungsraum. 2. Die Klausuraufsichten beobachten recht genau, was auf den Bildschirmen passiert. 3. Wichtige Ressourcen, die für die Aufgabenbearbeitung notwendig sind, sind nur von den Rechnern des Prüfungsraumes aus erreichbar (wie z.B. die Serveradressen aus den obigen Beispielen). 4. Teil der Aufgabenkonzeption ist ein gewisser Zeitdruck, der sehr aufwendige Recherchen und Kommunikationsversuche „bestraft“. Bei Online-Open-Book-Klausuren sind die ersten drei Punkte nur eingeschränkt umsetzbar, es ist allerdings für die Zukunft wieder von Präsenz-Klausuren am Rechner auszugehen.

Bedeutsame Problemstellungen werden vor allem durch möglichst realitätsnahen Aufgaben wie der Datenbank mit Länderinformationen oder einem Javascript-Bookmark zur Veränderung der Klausurumgebung erreicht. Darüber hinaus ist es ein heikles Unterfangen, durch die Art der Aufgabenstellung Identifikationsmöglichkeiten und positive Emotionen hervorrufen zu wollen, denn es entsteht leicht der Eindruck, der Prüfungsautor würde den Ernst der Prüfung für die Betroffenen verkennen. Dennoch werden auch erzählerische und humoristische Elemente genutzt, die bereits in Übungs- und Selbstüberprüfungsaufgaben eingeführt und dann sparsam eingesetzt werden. Im Erfolgsfall können sie dafür sorgen, Aufgaben in ein anderes, motivierenderes Licht zu rücken.

3.3.2 Umsetzung

Für die Lehrveranstaltungen „Web-Technologien“, „Datenbanksysteme“ und „Introduction to Artificial Intelligence and Logic Programming“ (Cognitive Science) wurden im Projektzeitraum insgesamt acht Open-Book-Klausuren geschrieben, die aufgrund von Corona-Einschränkungen zumeist als Online-Open-Book-Klausuren durchgeführt wurden. Die sich die Einhaltung von restiktiven Nutzungsverboten von Unterlagen und Informationsquellen in Fernklausuren ohnehin kaum überprüfen lässt, hat sich die konzeptuelle Vorbereitung schon vor der Pandemie stark ausgezahlt. Aus dem Projektkontext wurden Workshops zu Grundlagen, Konsequenzen und Beispielen von Open-Book-Klausuren für alle Fächer und Fachbereiche der Universität angeboten.

Beispiele für Aufgaben zu den drei genannten Aspekten verdeutlichen die mögliche Ausgestaltung:

1. Fachliche Kompetenzen statt Fachwissen: „Die Datenbank ‚world facts‘ enthält vielfältige Informationen über alle Länder der Erde und ihre größten Städte. Sie können die Datenbank über ein Web-Interface unter der Adresse … nutzen. Machen Sie sich mit dem Datenbankschema vertraut und formulieren Sie eine SQL-Abfrage, die folgende Frage beantwortet: ‚Welches ist die größte Stadt in einem Staat mit einer Monarchie?‘“ Diese Aufgabe aus der Probeklausur zur Vorlesung „Datenbanksysteme“ erfordert sowohl Analyse- als auch Konstruktionskompetenzen für SQL-Datenbankanfragen. Die Verwendung realer Daten einer grundsätzlich dem Allgemeinwissen zuzurechnenden Domäne erleichtert das Testen.

2. Informationskompetenz statt „Bulimie-Lernen“: „Informieren Sie sich im RFC 3986 (https://tools.ietf.org/html/rfc3986) darüber, wie die zulässige Syntax für Schema-Bezeichner definiert ist und entscheiden Sie, welche der nachfolgenden Beispiele zulässige Schemabezeichner darstellen…“ Der Inhalt dieser RFC-Spezifikation war nicht Gegenstand des Web-Technologien-Kurses, dafür aber die Frage, wie solche Spezifikationen zu lesen sind. Hier wird geprüft, ob jemand in kurzer Zeit aus einer komplexen Informationsquelle ganz konkrete Informationen erschließen kann.

3. Bedeutsame Problemstellungen statt artifizieller Prüfungsaufgaben: „Sie sind Teil eines Startups, das einen Online-Sport-Tippspiel-Dienst anbieten will, mit dem Firmen, Kegelclubs und Schulklassen einfach eigene Tippspiele umsetzen können. Sie sind die einzige Person, die Kenntnisse in Datenbanktechnologien hat, daher müssen Sie alle relevanten Entscheidungen treffen. […] Bei der Suche nach Investoren für Ihr Vorhaben erklärt sich die örtliche Volkskassenbank bereit, Sie finanziell zu unterstützen. Sie stellt aber die Bedingung, dass Sie das alte, aber zuverlässige hierarchische Datenbanksystem lizensieren und verwenden, das bei der Bank im Einsatz ist. Modellieren Sie die Tippspiel-Datenbank für ein solches System.“ Dieser Teil einer mehrteiligen Aufgabe soll motivieren, weshalb Wissen über eine veraltete Form von Datenbanksystemen relevant ist. Auch wenn das Szenario nicht sehr realistisch ist, wurde diese Aufgabe aus der Probeklausur zu „Datenbanksystemen“ von den Studierenden als motivierend eingeschätzt.

3.3.3 Ausblick

Die Projekterfahrungen haben gezeigt, dass Open-Book-Klausuren Prüfungen in großen Veranstaltungen ermöglichen, die die Kompetenzziele des Kurses besser abprüfen als traditionelle Klausuren. Nach anfänglichen Berührungsängsten bei Lehrenden und Studierenden ist jetzt auch nach Ende der Corona-Beschränkungen die Bereitschaft hoch, Open-Book-Klausuren durchzuführen. Aus dem Projektkontext konnten mit Beispielklausuren [5] und Workshops deutliche Impulse in den gesamten Studiengang und die Universität hinein geleistet werden.

4 AG Software Engineering

In der AG Software Engineering wurden experimentelle technische Unterstützungsmöglichkeiten für die Umsetzung des Inverted-Classroom-Modells entwickelt. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Individualisierung von Lehre und Lernmitteln. Als Nutzer und Profiteure wurden sowohl Dozent*innen, als auch Tutor*innen und Studierende einbezogen. Dabei sind das LearningNet [6] und der Klausurgenerator entstanden.

So ermöglicht das LearningNet zum einen Dozent*innen das einfache Erstellen und Anpassen individualisierbarer Lehrinhalte, und zum anderen den Studierenden, die für sie jeweils optimale Abfolge dieser Inhalte zu nutzen. Realisiert ist dies in Form von Netzwerken aus Lernmodulen, auf deren Grundlage anhand der Anforderungen und Bedürfnisse der Studierenden geeignete Wege durch die Netzwerke ermittelt werden.

Eine andere Art der Individualisierung und Unterstützung findet sich im Klausurgenerator wieder. Neben der Erstellung und Verwaltung von Klausuren und Aufgabensammlungen bietet er insbesondere Funktionen zum automatischen Generieren von Variationen. Der Individualisierungsgrad ist dabei flexibel anpassbar, sodass sowohl einfach A/B-Gruppen, als auch komplette Einzelvarianten je Studierende(m) erstellt werden können.

4.1 LearningNet

Die Integration von Inverted-Classroom-Szenarien erfordert die Entwicklung geeigneter didaktischer und technischer Hilfsmittel. Letztere wurden im Rahmen von InClassPraxis um den LearningNet-Prototypen erweitert. Es ermöglicht die Erstellung und Nutzung individueller Lernpfade innerhalb des Learning Management Systems Stud.IP.

Konzept

Die Nutzung von LearningNet soll einfach und möglichst „nahtlos“ sein, indem an vorhandene Software und Inhalte angeknüpft wird. Daher erfolgt die Integration in Stud.IP als Erweiterung des Courserware-PlugIns, welches die Umsetzung interaktiver, multimedialer Lehrinhalte ermöglicht. Mit LearningNet lassen sich Netzwerke aus Courseware-Inhalten erzeugen, um unterschiedliche Wege und Zusammenhänge der Lerneinheiten umzusetzen. Auf Basis der Netzwerke können wiederum für jede(n) Studierende(n) individuelle, ideale Pfade ermittelt werden. Hierfür sind entsprechende Kostenfunktionen verfügbar, um die vielfältigen Kriterien abzubilden. Beispiele sind die Schwierigkeit und die Dauer von Lerneinheiten, sowie die Ähnlichkeit nachfolgender Einheiten im Vergleich zu der zuletzt bewältigten.

Umsetzung

Die Funktionalitäten sind im Wesentlichen auf zwei zentrale Komponenten verteilt:

  • Das Frontend für Netzwerkdarstellung und -interaktion, sowie
  • das Backend für das Ausführen von Algorithmen und Berechnungen.

Neben der Visualisierung bietet das Frontend Funktionen für die Anpassung der Netzwerkstruktur. Zudem lässt sich die Gewichtung der verwendeten Kostenfunktionen einstellen. Dies ermöglicht beispielsweise, dass die Auswahl der nächsten, individuell besten Lerneinheit stärker von ihrem Schwierigkeitsgrad bestimmt wird, als von ihrer Dauer.

Im Backend wird unter anderem die Validierung der Netzwerkstrukturen durchgeführt, sodass ein lückenloser Zusammenhang von Lerneinheiten ohne Kreisschlüsse gewährleistet werden kann. Andere dort ausgeführte Algorithmen dienen dazu, die beste nächste Lerneinheit, sowie vollständige Lernpfade zu ermitteln.

4.2 Generischer Klausurgenerator

Angetrieben von dem Druck zur Digitalisierung der Lehre während der Corona-Pandemie, wurde ein Klausurgenerator als weiteres Hilfswerkzeug entwickelt. Dieser unterstützt sowohl die Erstellung von Klausuren, als auch ihre Kontrolle. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Variation von Aufgaben zum Erschweren von Betrugsversuchen. Neben Klausuren kann der Generator auch für ähnliche Aufgabensammlungen verwendet werden, wie zum Beispiel für Übungsblätter. Alternativ oder ergänzend zu anderen Materialien wie Altklausuren können sie zur Vorbereitung für Prüfungen verwendet werden.

Konzept

Ein grundlegender Ansatz des Klausurgenerators ist die Vereinfachung manuell aufwändiger Arbeitsschritte durch Teilautomatisierung. So wird beispielsweise das zuvor praktizierte händische Ableiten von Klausurvarianten durch einen zentralen Ansatz ersetzt: Die Struktur der Klausur oder des Übungsblattes wird einmalig angelegt und die variablen Bereiche durch die Angabe von Regeln und anderen Vorgaben für die Variation gekennzeichnet. Auf diese Weise können nahezu beliebig viele Versionen einer Klausur erzeugt werden; von einfachen A/B-Gruppen bis hin zu individuellen Einzelexemplaren. Das Anlegen und Nutzen von Regeln wird durch Vorlagen und grundlegende mathematische Funktionen unterstützt, bis hin zum automatischen Erzeugen von Diagrammen und Grafiken. Der regelbasierte Ansatz ermöglicht zudem das Generieren der jeweils zugehörigen Lösung, sodass gleichzeitig eine Korrekturhilfe existiert. Diese ist interaktiv und zeigt den aktuellen Korrekturfortschritt an. Desweiteren können Notizen hinzugefügt werden, sowie Hinweise zu Plagiatsverdachten. Die eingetragenen Bewertungen werden automatisch zu einer Notenübersicht zusammengetragen. Eine weitere Funktionen des Tools ist die Möglichkeit, Anwesenheitslisten hochzuladen und automatisiert mit den zur Klausur angemeldeten Studierenden abzugleichen.

Umsetzung

Die Implementierung des Klausurgenerators erfolgt mittels Web-Technologien mit verteilter Architektur. Dabei dient das Frontend zum einen den Dozent*innen der Erstellung und Verwaltung von Klausuren, und zum anderen den Korrigierenden zur Lösungsüberprüfung und Eingabe erreichter Punkte. Da letzteres häufig durch Tutor*innen erfolgt, ist ein Rechtesystem mit getrennten Ansichten und Funktionen integriert. Das Backend des Systems beinhaltet die zur Frontend-Anbindung notwendigen Schnittstellen, sowie die Datenbank- und Rechteverwaltung. Für die technische Umsetzung wird im Frontend die JavaScript-Bibliothek React verwendet, während das Backend auf den Bibliotheken NodeJS, Sequelize und Express aufbaut.

Ausblick

Die innerhalb der AG Software Engineering entwickelten Werkzeuge LearningNet und der Klausurgenerator vereinfachen nicht nur vormals aufwändigere Prozesse auf ihren Anwendungsgebieten, sondern bieten durch die jeweilige Berücksichtigung und Einbeziehung jeder/s Studierenden auch das Potential, den „Testing Effect“ [4] zu nutzen. Hierbei können die Werkzeuge zur gezielten Leistungsmessung verwendet werden, um Lernerfolge zu verbessern. Solche Nutzungsmöglichkeiten erweitern die primär fokussierte Unterstützungsfunktion und stärken zudem die Umsetzung des Inverted-Classroom-Modells.

Gesamtfazit der Teilprojekte

Durch die Beteiligung der drei Arbeitsgruppen an dem InClassPraxis-Projekt konnten ihre jeweiligen Stärken und Fähigkeiten eingesetzt werden, um unterschiedliche Aspekte des Inverted-Classroom-Modells umzusetzen. Unter anderem wurde an Courseware, Open-Book-Prüfungen, Coding Classes, Jupyter Notebooks, individuellen Lernpfaden und und generischer Klausurerstellung gearbeitet. Dabei entstanden Mittel und Prozesse, die eine nachhaltige Verbesserung der Lehre ermöglichen. Die Auswirkungen auf den Lehrbetrieb durch die COVID-19-Pandemie beeinflussten auch die Projektdurchführung. Sie konnten jedoch auf positive Weise als Katalysator für Digitalisierungsmaßnahmen genutzt werden. Insgesamt zeigen die InClassPraxis-Teilprojekte sowohl den Nutzen, als auch die erfolgreiche Umsetzbarkeit innovativer und virtueller Lehrmittel anhand des Inverted-Classroom-Modells. Die Ergebnisse sollen über das Projekt hinaus genutzt und für zusätzliche Anwendungsgebiete erweitert werden.

Referenzen

[1] VirtUOS Support-Team, „COVID-19: Hinweise zum Einsatz Digitaler Lehre“, https://www.virtuos.uni-osnabrueck.de/digitale lehre/covid_19.html, zuletzt aufgerufen am 22. 09. 2021.

[2] Lage, M. J., Platt, G. J., & Treglia, M. (2000). Inverting the classroom: A gateway to creating an inclusive learning environment. The Journal of Economic Education, 31(1), 30-43.

[3] Neuartiges Coronavirus, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, zuletzt aufgerufen am 22. 09. 2021.

[4] Kühl, S. J., Schneider, A., Kestler, H. A., Toberer, M., Kühl, M., and Fischer, M. R. (2019). Investigating the self-study phase of an inverted biochemistry classroom–collaborative dyadic learning makes the difference. BMC medical education, 19(1), pp. 1-14.

[5] Thelen, T. (2020). Kommentierte Lösung der digitalen Open-Books-Klausur „Web-Technologien“ im Wintersemester 2018/2019. Universität Osnabrück, https://www.twillo.de/edu-sharing/components/render/98b19074-81e4-4680-b525-3f33a88e0a4e

[6] Ilsen M. (2020). Individualized Learning Paths for the Stud.IP Plugin “Courseware”, Masterarbeit, Universität Osnabrück.