On the Road Again: Überlegungen zu Studium und Lehre im digitalen interkulturellen Raum

Der folgende Beitrag wurde von Ly Lutter, Mitarbeiterin im Projekt OS-COSMOS, und Ioulia Grigorieva, Mitarbeiterin in den Projekten SOUVER@N und ConnEx, für die Blog-Kategorie „Meinungen und Haltungen“ verfasst.

zwei Roboterhände berühren sich an den Zeigefingern
Bild von Stefan Dr. Schulz auf Pixabay

Die Corona-Semester haben den Blick auf Lehre und Studium sowie die eigene Lehr-/Lernpraxis erheblich geschärft. Dadurch werden gewisse Selbstverständlichkeiten als immer weniger selbstverständlich empfunden: Muss eine Lehrveranstaltung immerzu an die Lehrperson gebunden sein? Was passiert, wenn der Studienalltag nicht durchgehend von Peer-Kontakt begleitet ist? 

Dadurch, dass in den letzten zwei Jahren die virtuelle Zusammenarbeit zum Default-Modus wurde, fangen wir zudem an, von neuen Selbstverständlichkeiten auszugehen, etwa dann, wenn wir darüber nachdenken, was wir trotz räumlicher Distanz zusammen unternehmen können. Die Möglichkeiten und Freiheiten, die uns der Austausch per Videokonferenz, kollaboratives Arbeiten an Dokumenten, asynchrones Lernen mithilfe von Lernmanagementsystemen uvm. geben, zeigen eindrücklich, dass wir uns von der räumlichen (und oftmals auch zeitlichen) Dimension durchaus unabhängig machen können. Auch insgesamt verändert sich die Welt und damit die Aufgaben einer Hochschule, die die Studierenden auf einen bewussten Umgang mit dieser veränderten Realität, die digitaler, internationaler, ortsunabhängiger und flexibler wird, einstimmen und vorbereiten soll. Dabei stehen die Rollen und die Aufgaben von Lehrenden, Studierenden, Tutor*innen und der Hochschulen selbst vor einer Re-Evaluation. So hat die Pandemie mitunter gezeigt, dass wir eine Vorbereitung auf lebenslanges Lernen mit und zwischen Menschen, die sich nicht (durchgehend) am selben Ort aufhalten, brauchen.

Mit der globalen Öffnung der Hochschullehre für Online-Studierende wird das Verständnis von Lehre zusätzlich durch (akademische) Interkulturalität diversifiziert: Ist Lehre dazu da, Inhalte zu vermitteln, auf lebenslanges Lernen vorzubereiten, eigenständig zu arbeiten, einen kritischen Geist zu schärfen – alles zusammen oder was gänzlich Anderes? Manch ein*e Studierende*r ist dabei irritiert, wenn es etwa um „softe Faktoren“ geht, da sie eher erwartet haben, “harte” Inhalte vermittelt zu bekommen, und andere finden didaktische Konzepte, die sie als aktive und selbstbestimmte Akteur*innen einbinden, befremdlich.

Das Projekt OS-COSMOS (“Osnabrück Cognitive Science Master Online Studies”) am Institut für Kognitionswissenschaft ist ein Pilotprojekt der Universität, in dem der reguläre Master Cognitive Science geöffnet wird – für internationale Masterstudierende, die aus ökonomischen, privaten oder politischen Gründen sonst nicht an der Universität Osnabrück studieren könnten. Hier schreiben sich Studierende aller Zeitzonen ein und alleine dieser Umstand dreht die gewohnten Lehr-/Lernkonzepte auf links. 

Im Etablieren eines solchen vorwiegend digitalen interkulturellen Raums liegen etliche Chancen, aber auch Herausforderungen:

  • Das Konzept kann ein Umdenken von studienbezogenen Auslandsaufenthalten einleiten. Eine stärkere inhaltliche Ausrichtung eines Auslandsstudiums könnte sich im Rahmen eines vertiefenden und stark projektorientierten Master-Studiums als besonders fruchtbar zeigen.
  • Dadurch, dass das Konzept neue, unbekannte und diversere Studierende erreicht, löst es zusätzliche Unsicherheiten bei Lehrenden und Studiengangsbetreuenden aus.
  • Die Studierenden bringen unterschiedliche kulturelle Räume auf selbstverständliche Weise ein, da sie aus ihrem eigenen Zuhause und dem akademischen Kontext ihres Bachelors heraus agieren. Dadurch können die erwartbaren Irritationen in ganz anderen Situationen auftreten als in einem von Beginn an – etwa durch die Anreise, das Beziehen eines Wohnheimzimmers, eine Abholung durch einheimische Buddys etc. – interkulturell markierten Raum.
reduzierte Darstellung einer Person mit blau markiertem Kopf, rotem Herz und grünen Händen
nach Bosse 2010, S. 128

Was kann man als Lehrende*r also im digitalen interkulturellen Raum für sich und andere tun? Wie kann man dafür sorgen, dass die Chancen Chancen bleiben und die Herausforderungen nicht zu Problemen werden? Um unsere Gedanken zu strukturieren, haben wir uns eines Models von Bosse 2010 bedient, das interkulturelle Kompetenz als ein Zusammenspiel von drei Ebenen darstellt – der kognitiven, der affektiven und der Handlungsebene, wobei eine ganz scharfe Trennung unmöglich erscheint.

Auf der kognitiven Ebene geht es darum, ein Bewusstsein für Unterschiede im interkulturellen digitalen Raum zu schaffen. Mögliche Differenzen können Gewohnheiten zu Lehre und Studium oder im Umgang mit Informationsflüssen betreffen. Wo und wie erhalte ich als Studierende*r notwendige Informationen und wie gehe ich mit Deadlines um? Was bedeutet Beteiligung in synchronen Arbeitsphasen? Darf/kann/soll ich (wie) fragen, wenn ich etwas nicht verstehe? Welche Erwartungen werden an die Gruppenarbeit herangetragen und wie klar und detailliert sollten Arbeitsanweisungen sein? 

Es hilft weiterhin zu wissen, wie viel Ambiguität in der Sprache stecken kann, d.h. wie sehr Sprache und Kommunikation kulturell beeinflusst sein können. Begriffe wie “Konzept” können sich als sehr schillernd erweisen, wenn es darum geht, bis zum Datum X ein “Konzept” zu etwas zu entwickeln. Solche Wissensunterschiede können sich zudem auf weiteren sprachlichen Ebenen verbergen wie z.B. bei ganzen Äußerungen oder Fragen betreffend den Aufbau von Texten oder Gesprächen. Wichtig ist daher für uns alle, die eigenen Kommunikationserwartungen nicht als Standard zu setzen.

Absolut essentiell ist außerdem das Wissen über die unterschiedlichen didaktischen Möglichkeiten der Online-Lehre. Dazu gehören die verschiedenen Beteiligungsformen, aber auch diverse asynchrone Formate sowie Erfahrungswissen darüber, wie man ein Gemeinschaftsgefühl online erzeugen kann. Ein Blick auf andere Länder kann sich bei manch einer Überlegung – was beispielsweise die Evaluationskultur betrifft – als lohnenswert erweisen und die eigene Perspektive erweitern.

Auf der affektiven Ebene geht es darum, bestimmte, auf den ersten Blick auch völlig unverständliche Dinge aushalten zu können und eine generelle Sensibilität für unterschiedliche Handlungsstrategien zu entwickeln: Stille Studierende sind nicht zwingend inaktiv, sondern warten vielleicht einfach ab.   

Auf der Handlungsebene betrifft es ganz konkrete Handlungsstrategien, um insbesondere mit diesen potentiellen Unterschieden umgehen zu können. Da online die Rollen und Aufgaben ohnehin neu sortiert werden müssen, können wir ganz neue „Regelwerke“ vorschlagen, sie mit den Studierenden aushandeln und etablieren. Denn Online-Lehre ist auch eine Einladung an Studierende und Lehrende zur Reflexion darüber, was für beide Seiten am besten funktioniert. Was aber auf jeden Fall hilfreich sein kann, sind Flexibilität in der Nutzung verschiedener Lehr-/Lernformate, Toleranz gegenüber sprachlicher Imperfektion auf beiden Seiten, Kreativität in der Entwicklung von Beteiligungsstrategien sowie Mut, einen Schritt nach hinten zu machen und zu beobachten anstatt zu interpretieren und zu bewerten.

Zusammenfassend können wir also sagen: Online-Lehre ist keine Abkürzung, sondern ein bereichernder Umweg. Als Brennglas auf die Gewohnheiten ist (interkulturelle) Online-Lehre eine Möglichkeit, Lehr-/Lerngewohnheiten zu hinterfragen anstatt Bekanntes und sicher Geglaubtes zu reproduzieren.